Karatekas im härtesten Trainingslager aller Zeiten – Eine Reportage von Antje Gust
40 Mitglieder der Ashihara Karate Familie Deutschland haben sich am 29. Juni zum gemeinsamen Sommer Camp getroffen. Das am See gelegene Feriendorf Dorado in Marienwerder/OT Ruhlsdorf bot ihnen ideale Bedingungen. Sie reisten aus den Kampfsportschulen Strausberg, Berlin-Köpenick, Berlin-Pankow und Braunsbedra/OT Krumpa (Sachsen-Anhalt) an. Mit dabei waren 25 Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Strausberg im Alter von 6 bis 51 Jahren.
Der Chef vom Ashihara Karate Deutschland ist der Bundestrainer Sensei Peter Liebecke (3.Dan). Er trainiert regelmäßig die Schüler in der Karateschule Strausberg (SEP Landhausstraße). Und das nur nebenberuflich – Respekt! Mit seiner Leidenschaft für den Kampfsport hat er bereits seinen Sohn, Artur (9), angesteckt, der auch in Strausberg trainiert. Peter Liebecke ist ein international bekannter Trainer und leitet wie jedes Jahr das Sommer Camp streng, aber gerecht. Dieses Jahr tüftelt er 13 unterschiedliche Trainingseinheiten mit je ein bis zwei Stunden Länge aus.
Ashihara ist ein moderner und realistischer Vollkontakt Karate-Stil mit Elementen aus Thai-Boxen, Aikidos und Kyokushin-Karate. Vollkontakt ist nichts für Weicheier, aber „wer jedoch dran bleibt, lernt mehr, als sich nur selbst zu verteidigen“, so die Überzeugung von Peter Liebecke. Neu in diesem Jahr sind das Trainieren von gezielten Faustschlägen zum Kopf des Gegners und das Abwehren dieser Angriffstechnik. Da der Kopf der empfindlichste Teil des Körpers ist, gehörten bisher diese gezielten Schläge zu den verbotenen Techniken im Ashihara Karate. Doch nun wollen sich diese Karatekas mit anderen Kampfsport-Stilen messen, bei denen die Schläge zum Kopf erlaubt sind. Eigens dafür haben sich alle Schüler und Trainer einen professionellen Kopfschutz für Kampfsportler zugelegt, der Nase und Zähne vor Verletzungen schützt.
Zunächst begrüßt der Bundestrainer die Trainingslager-Neulinge herzlich und fordert alle Teilnehmer zum respektvollen Umgang auf. Die gemeinsame Begrüßung ist eine knieende Sitzhaltung mit gebetsartigen Grüßen. Dabei sitzen sich die Teilnehmer des Trainingslagers und Sensei Peter gegenüber. Beim ersten Gruß wird das Shinten geehrt. Das ist ein Tor aus zwei Pfosten und zwei Querbalken darüber. Es steht als Markenzeichen für die Religion in Japan. Danach wird der Großmeister in Japan geehrt, nennt sich Kansho. Danach werden mit den Grüßen die Meister (Sensei), die Altschüler (Sempai), die auszubildenden Trainer (Ichidichi) und zum Schluss die Schüler (Kohai) geehrt. Das Training kann beginnen und alle rufen laut „Osu“ (Uss)!
Samstag, 18:30 Uhr. Techniktraining: Jeder Karateka sucht sich einen Trainingspartner möglichst in gleicher Größe. Sie sprechen untereinander ab, wer Angreifer und wer Verteidiger ist, und tauschen später die Rollen. Die erste Angriffstechnik ist ein gerader Fauststoß zum Kopf. Dabei sind die Schulter und die Hüfte mit einzusetzen. Der Verteidiger weicht nach rechts oder links aus und kontert mit drei Techniken: Faustschlag zum Kopf, Haken zum Kinn und Tritt zum Körper des Angreifers.
Als Nächstes ist mit dem Außen-Lowkick anzugreifen. Beim Lowkick tritt der Angreifer mit seinem Schienbein im Halbkreis auf dem gegenüberstehenden Oberschenkel des Verteidigers. Zehn Zentimeter über dem Knie ist ein Muskelansatz. Wenn der getroffen ist, zwiebelt es mächtig und beeinträchtig ihn in seinen weiteren Aktivitäten. Deshalb soll der Verteidiger während des Angriffs blitzschnell einen Innen-Lowkick treten, also mit seinem Schienbein an die Innenseite des gegnerischen Oberschenkels. Damit ist die Stabilität des Angreifers weg und ein Ellenbogenschlag zum Kopf könnte schon das Knockout des Angreifers bedeuten. Nach zwei Stunden Training sind alle klitschnass geschwitzt und k.o.
Sonntag, 10 Uhr. Die ersten Kopfschmerzen werden wegmassiert. Die Nackenmuskeln müssen noch für die neuen Techniken extra trainiert werden. Dafür gibt Sensei Peter Liebecke Tipps. „Viel Trinken“ ist dieser Tage sein meist gesagter Satz. Wer zwischen den Trainingseinheiten ohne Wasserflasche erwischt wird, wird vom Trainer getadelt. Diese Strenge muss sein, denn das Trainingslager ist lang und mega anstrengend. Die Techniken vom Vortag werden in der ersten Stunde wiederholt. Danach üben alle den geraden Fußtritt zum Bauch, auch mae geri shudan genannt. Die Abwehrtechnik ist hier ein Block, der gedan barrai. Dabei wehrt der Verteidiger mit seiner Hand den gegnerischen Fuß so ab, sodass er nicht getroffen wird. Die Seite des Angreifers ist nun offen für die Gegenangriffe des Verteidigers. Die Karatekas sollen sich selbst Techniken überlegen, die in dieser Position möglich sind. Sensei Peter beobachtet die Eigenkreationen der Kinder und Jugendlichen ganz genau und lässt sie diese als Beispiel für alle vorzeigen. So lernen nicht nur Schüler vom Meister und der Meister vom Schüler, sondern auch Schüler vom Schüler.
Sonntag, 17 Uhr. 39 Grad Celsius und gefühlt der heißeste Tag in diesem Jahr. Mindestens zwei bis drei Liter Wasser trinkt heute jeder Kampfsportler. Sabaki ist das Ziel bei dieser Trainingseinheit. Sabaki ist Verteidigen durch Ausweichen. Dabei geht der Verteidiger kreisförmig auf vier unterschiedlichen Positionen neben dem Angreifer. Diese vier Bewegungen bilden auch das Logo von Ashihara Karate. Von der Ausweichposition aus wird der Angreifer kontrolliert und mit unterschiedlichen Techniken selbst attackiert. Die Angriffe dachten sich die Karatekas selbst aus. Die Anfänger weichen zur rechten oder linken Seite des Angreifers (Position 1 und 2) aus und die Fortgeschrittenen zum Rücken des Angreifers (Position 5 und 6). Auch bei weniger Temperatur wäre dies definitiv eine schweißtreibende Übung.
Montag, 10 Uhr. Bundestraner Liebecke erklärt zuerst die neuen Kampfregeln: Tabu sind Kniegelenke, Genick, Nieren, Wirbelsäule. Erlaubt sind: Fausttechniken, auch Schnappschlag mit dem Faustrücken, Ellenbogenstöße, Lowkicks mit dem Schienbein, gerade Fußtritte, Halbkreis-Fußtritte vorwärts und rückwärts. Es zählen Treffer zum Körper mit 1 Punkt, aber nicht die Treffer zum Schutzblock. Treffer mit deutlicher Wirkung sind 3 Punkte wert. Neu ist auch das Zählen der Treffer mit einem mechanischen Handzähler oder auch Klicker genannt. Die drei Sempai‘s probieren sich mit den Klickern aus und vergleichen nach jedem Kampf die Werte untereinander. So üben die späteren Kampfrichter die Bewertung der Treffer. Danach beginnt das Pratzentraining. Die blauen und schwarzen Schlagpolster dienen zur Abfederung eines Schlages oder Trittes. Die Karatekas können somit ihre Techniken mit voller Kraft üben.
Montag, 16 Uhr. Kumite ist Kampftraining mit voller Schutzausrüstung, d.h. Schienbeinschützer mit Fußschutz, Kopfschutz und Handschützer. Boxhandschuhe sind nicht geeignet, da die Finger für die Würfe frei sein müssen. Deshalb Kickbox-Handschuhe, bei denen die Rückseiten der Hände gepolstert sind. Sensei Peter stellt Kumitepartner nach Größe und Alter zusammen. Jeder ist einmal dran zu kämpfen. In der Mitte der Halle ist eine Kampffläche mit Matten ausgelegt. Der Mattenbereich darf nicht verlassen werden. Sonst gibt es einen Minuspunkt. Die drei Schwarzgurte klickern die Treffer und vergleichen die Werte. Bei einigen Kämpfen liegen ihre Zähler weit auseinander. Alle nichtkämpfenden Karateschüler sitzen um die Kampffläche herum und beobachten die jeweiligen Kämpfer. Lernen durch Zugucken für alle.
Montag, 20 Uhr. Yoga mit Aljoscha, mal eine ruhige Trainingseinheit. Der junge Mann aus Berlin liebt das Meditieren und zeigte den Teilnehmern des Trainingslagers Konzentrationsübungen und Dehnungen. Das Meditieren oder das Konzentrieren vor Kämpfen bringt die nötige Gelassenheit. Unkonzentrierte Kämpfer machen Fehler und verletzten sich leichter. Die Dehnungen der Bänder (Sehnen) und Muskeln sind für alle Techniken wichtig, die des Beckens für die Fußtritte und Kniestöße, die der Schulter für Faust-, Ellenbogen- und Blocktechniken, die der Hände für Würfe und Blöcke.
Dienstag, 10 Uhr. Zu Beginn gibt es erstmal eine Ansage von Sensei Peter Liebecke. Er hat in den letzten Tagen die Kinder und Jugendlichen beobachtet, auch beim Essen. Wer abnehmen will, muss weniger Süßes essen. Wer zu dünn ist, muss mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen. Es gibt unterschiedliche Kämpfertypen, von Draufgänger bis Überlegt-Kämpfer. Jeder Karateka soll sein Talent ausüben dürfen. Dann gibt es noch Ratschläge zum Aushalten der Schläge zum Kopf: „Nacken festmachen, nicht wegdrehen, ausweichen oder ducken, Doppelblock ist keine Schande, sucht euch einen höheren Gurt zum Üben“. Dann folgt ein Aktiv-Passiv-Training. Dabei ist einer der Angreifer (aktiv) und einer der Verteidiger (passiv). Der Angreifer greift mit einer Faust- oder Fußtechnik an. Der Verteidiger weicht aus oder blockt den Angriff ab. Dann folgen ein bis drei Gegentechniken. Mit Konzentration, Taktik und guter Körperspannung gelingen die gelernten Techniken.
Dienstag, 17 Uhr. Schlagpolstertraining: Der Pratzenhalter bestimmt die anzuwendende Technik des Trainingspartners, d.h. er hält das Polster dorthin, wo der Partner hintreten oder hinschlagen soll. Beide bewegen sich noch dazu wie später auf der Kampffläche, wippen hin und her, tarieren Angriffsmöglichkeiten aus. Die Techniken wechseln schnell und können so mit großer Härte ausgeführt werden. Mit gutem Reaktionsvermögen auf beiden Seiten macht das allen sichtlich großen Spaß. Ab und zu „fliegt“ eine Pratze über den Kopf des Aktiven, der wiederum mit Ausweichen oder Ducken reagiert. Denn das „fliegende“ Polster hätte ein Fauststoß zum Kopf sein können.
Mittwoch, 10 Uhr. Kumite ist wieder dran, Kampftraining in voller Schutzausrüstung. Der Bundestrainer appelliert: „Mehr Techniken zeigen, Mädchen kämpfen auch gegen Jungen, Gewinnen und Verlieren gehört zum Leben, der Kleinere muss in den Gegner reingehen, der Größere muss den Kleineren auf Abstand halten!“ Dann kämpfen jeweils zwei Karateschüler 2 Minuten lang auf dem Mattenring. Die drei Sempai’s üben wieder das Zählen der Wirkungstreffer und vergleichen ihre Werte. Dieses Mal liegen sie nahe beieinander. Die anderen Kinder, Jugendlichen und Erwachsene sitzen am Rand des Mattenbereiches und schauen den Kämpfern zu, bis sie selbst dran sind. Nach etwa einer Stunde folgt die Auswertung. Sensei Peter zeigte sich sehr zufrieden: „Louis (6) hat super Techniken gezeigt. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus“, sagte der Bundestrainer. Ein großes Lob gab es für die sauberen Kämpfe. Und bei einigen Kämpfern habe Liebecke bereits eine Entwicklung gesehen.
Mittwoch, 19:45. Es ist schon das 10. Training in diesem Sommer Camp. Alle Teilnehmer sind erschöpft, erst recht nach dem Kumite am Vormittag. Deshalb entscheidet sich Trainer Liebecke für ein freies und freiwilliges Training ohne Karateanzug. Die meisten sind gekommen. Sie üben Techniken mit den Schlagpolstern, lockeres Aktiv-Passiv oder stretchen sich. Eine willkommene Abwechslung.
Donnerstag, 10 Uhr. Ein besonderes Highlight ergibt sich am Donnerstagvormittag. Eine sich im Feriendorf Dorado aufhaltende Kindergartengruppe hat Lust mit zu trainieren. Die Zwergenparade wird auf die sechs anwesenden Trainer aufgeteilt und bekommen Training mit den Schlagpolstern. Einige Kinder sind hochmotiviert dabei. Die Karateschüler üben derweil den Fußfeger, Kniestöße, Blöcke und den Vorwärtswurf. Besondere Aufmerksamkeit gilt der anschließenden Kontrolle über den geworfenen Gegner durch Fixieren mit dem Bein. Als Abschluss dürfen noch drei Techniken, wie zum Beispiel Fauststöße, ausgeübt werden. Bundestrainer Peter Liebecke ist sehr zufrieden mit seinen Schützlingen.
Donnerstag, 16 Uhr. Erste-Hilfe-Kurs für die Trainer. Sensei Uwe ist unter anderem ein Erste-Hilfe-Ausbilder und zeigt anhand von verschiedenen Verletzungen die notwendigen Sofortmaßnahmen. Trainer Aljoscha und Trainer Colin stellen sich als „Verletzte“ zur Verfügung. Sensei Uwe erklärt das Anlegen von Bandagen zum Ruhigstellen von gebrochenen Gliedmaßen, die stabile Seitenlage, das vorsichtige Abziehen des Kopfschutzes, das Stillen von Blutungen und vieles mehr. Fragen über Fragen stellen die Trainer. Aus der geplanten einen Stunde werden schnell zwei Stunden. Nebenan in der Trainingshalle üben die Teilnehmer des Trainingslagers wieder das spielerische Kämpfen, um die geeignetste Technik herauszufinden. Dann zeigt Bundestrainer Peter Liebecke noch Lösungen gegen das Clinchen, also wenn sich zwei Kämpfer regelwidrig umklammern, was meistens aus Erschöpfung passiert.
Freitag, 10 Uhr. Das Abschlusstraining ist eine Wiederholung aus Schlagpolster-Training, Sabaki und spielerisches Kämpfen. Jeder zeigt noch einmal, was er in dieser Woche gelernt hat. Nach dem Training lobt Sensei Peter alle Teilnehmer und bewertet dieses Trainingslager als das härteste in den letzten Jahren. Die ganze Woche galt als Prüfung. Alle Anfänger haben ihre Prüfungen bestanden und haben jetzt einen um ein oder zwei Grad höheren Gürtel. Die fortgeschrittenen Karatekas werden im Dezember ihr Können in einer richtigen Prüfung zeigen. Der Abschluss vom Trainingslager wird mit einer Sayonara-Party gefeiert. Es wird gegrillt und anständig zugelangt. Viele Karatekas kannten sich schon aus dem Trainingslager im Vorjahr. Bestehende Freundschaften wurden gefestigt und neue Freundschaften eingegangen. Schon heute freuen sich die meisten auf das Trainingslager im nächsten Jahr.
Mit dieser Reportage möchten wir dem Bundestrainer Peter Liebecke Danke sagen, dass er so unermüdlich an uns glaubt und das Beste aus uns herausholt. Ein weiterer Dank gilt all den Trainern, die uns bei der Weiterentwicklung unserer Techniken und unserer Persönlichkeiten unterstützen. Das sind Sensei Mike, Sensei Uwe und Ichidichi Aljoscha aus Berlin, Sensei Ralf, Sempai Colin, Ichidichi Markus und Ichidichi Stefan aus Strausberg, Sempai Erik und Ichidichi Christian aus Braunsbedra (Sachsen-Anhalt) und die anderen Trainer, die beim Trainingslager nicht dabei sein konnten. Ich bin stolz, dabei gewesen zu sein. Osu! Sempai Antje und die Schüler der Ashihara Karate Familie Deutschland.